Die schweren Unwetter am 18. August 2022 – Derecho über Europa
Dieser Beitrag wurde in Zusammenarbeit mit Michael Hutter (@unwetterfreaks) erstellt.
Weite Teil Süd- und Mitteleuropas wurden am 18. August 2022 von großräumigen Unwettern beeinflusst, welche sowohl in Bezug auf räumliche Ausdehnung als auch auf die Intensität ein Ausnahmeereignis darstellten. Neben mehreren sehr starken Superzellen im Golf von Genua und der Toskana bildete sich ab den frühen Morgenstunden ein sogenanntes Derecho, welches in Europa nur sehr selten auftritt. Trotz umfassender und präziser Vorwarnungen von Wetterdiensten und Experten (für Italien!) forderte die Unwetterlage mindestens 12 Menschenleben und noch deutlich mehr Verletzte in Italien, Frankreich und Österreich.
𝗠𝗲𝘁𝗲𝗼𝗿𝗼𝗹𝗼𝗴𝗶𝘀𝗰𝗵𝗲 𝗔𝘂𝘀𝗴𝗮𝗻𝗴𝘀𝘀𝗶𝘁𝘂𝗮𝘁𝗶𝗼𝗻
Grundvoraussetzung der Entstehung eines derart großen mesoskaligen Gewittersystems war das Vorhandensein eines Höhentrogs (hochreichendes Tief) über der iberischen Halbinsel, welcher sich im Laufe der Nacht auf Donnerstag in Richtung Norditalien bewegte. Rekordverdächtige Wassertemperaturen und störungsfreies Wetter in den Wochen zuvor, begünstigten den Aufbau von enormen Labilitätsmengen im tyrrenischen Meer mit Spitzen von bis zu 5.000 J/kg ML-CAPE*. Dementsprechend lagerten im initial betroffenen Gebiet in hohem Maß potentiell instabile Luftmassen, was unter anderem anhand der CAPE-Werte und des KO-Index abgeleitet werden konnte. Bei sehr gut ausgeprägter hochreichender Windscherung von bis zu 30 m/s 0-6km DLS** und langgestreckten und zugleich gekurvten Hodographen, sprach zudem vieles für die Bildung von nach rechts ausscherenden und langlebigen Superzellen in einem Streifen von Mallorca bis an die Adriaküste. Die DLS bringt einen hohen Einfluss für die Lebensdauer einer konvektiven Zelle und das Potenzial zur Entstehung superzellulärer Entwicklungen mit sich. Ergänzt wurde die kritische Überlappung zwischen einer sehr hohen Labilität und starker Windscherung durch weiträumige synoptische Hebungsantriebe aufgrund der räumlichen Nähe zum Höhentrog.
𝙑𝙤𝙢 𝘽𝙤𝙬-𝙀𝙘𝙝𝙤 𝙯𝙪𝙢 𝘿𝙚𝙧𝙚𝙘𝙝𝙤
Bereits in der zweiten Nachthälfte bildeten sich über dem westlichen Mittelmeer mehrere Superzellen und gingen am Morgen in einem starken, linienförmig organisieren MCS auf. Vorlaufend bildeten sich weitere Superzellen im Golf von Genua, wobei ein besonders starkes Exemplar die Stadt Sestri Levante um etwa 7 Uhr traf. Eine Kombination aus Orkanböen und sehr großem Hagel von bis zu 7cm führte zu großen Schäden und 15 Verletzten. Währenddessen verstärkte sich die sehr gut organisierte Linie vor der Südwestküste Korsikas weiter und entwickelte ab 7.30 Uhr zunehmend bogenförmige Strukturen.
Die wohl größte Gefahr eines mesoskaligen Gewittersystems entsteht bei der Ausbildung eines sogenannten Bow-Echos, einem bogenförmigen, konkav geformten Segment in Verlagerungsrichtung des Systems. Die Ausbildung eines Bow-Echos hängt stark mit der vertikalen Scherung und der Ausbildung eines sogenannten Rear-Inflow Jets zusammen, welcher ungesättigte Luftmassen aus der Umgebung in das MCS strömen lässt und dazu führt, dass sich der Cold Pool durch konstante Verdunstungsabkühlung verstärken kann. Bogenechos neigen dazu, sich zu entwickeln, wenn in den unteren 2 bis 3 km der Atmosphäre mäßige bis starke Windscherung vorliegt. Bezüglich der Entstehung eines Bow Echos ist vorerst der Begriff des Cold Pools zu klären. Cold Pools sind kalte, schwere Luftmassen, die durch niederschlagsbedingte Abwinde entstehen und die Temperaturgegensätze innerhalb des Systems verstärken. Da sich vor dem System mit dem darin befindlichen Cold Pool noch vorgelagerte warme bis heiße Luftmassen befinden, entwickeln sich starke Temperaturgegensätze. Die Aufwinde innerhalb des MCS neigen sich teilweise zunehmend über den Cold Pool und es resultiert ein Druckminimum. In diesem Fall wirkt zunehmend die Druckgradientkraft auf die entstandene Linie, die hinter der Linie befindliche Luft wird zunehmend beschleunigt und die Entstehung eines Rear-Inflow Jets kann die Folge sein. Dieser ist ein sehr starker, rückseitig im System erzeugter Starkwindstrom, der zur Vorderseite des Systems gerichtet ist. Letztendlich führte der Rear-Inflow Jet zu einer zunehmenden bogenförmigen Veränderung der Gewitterlinie und sie nahm die Form eines Bogenechos an. Um 8 Uhr traf das Bow-Echo mit maximaler Stärke auf die Südwestküste Korsikas und bewegte sich entlang der Westküste in Richtung Norden. Der entsprechende Downburst traf die Insel mit voller Wucht und sorgte verbreitet für extreme Orkanböen zwischen 180 km/h und 225 km/h. Im weiteren Verlauf entwickelte sich ein sogenanntes „Comma-Echo“, was typisch für den späteren Lebenszyklus eines Bow-Echos ist.
Besonders starke Bogenechos bzw. Gewittersysteme, die über die gesamte Frontlinie des Systems verheerende Schäden verursachen, werden auch als Derecho bezeichnet. Die Derecho-Entwicklung ist hierbei zwangsläufig an die vorherige Bildung von Bogenechos gebunden. Wenn sich der Streifen mit besonders starken Sturm- bzw. Orkanböen über mehr als 400 Kilometer erstreckt und über den größten Teil seiner Länge Windböen von mindestens 93 km/h oder mehr umfasst, kann das Ereignis per Definition als Derecho klassifiziert werden. Nach Auflösung des Bow-Echos bzw. Comma-Echos über Korsika entwickelte sich eine langgezogene Gewitterlinie, welche sich am Vormittag über weite Teile der Toskana, Emilia-Romagna und Venetien bewegte und hierbei weiterhin schwere Sturmböen und teilweise Orkanböen mit sich brachte. Ab etwa 13.30 Uhr überquerte das Derecho die Grenze zu Österreich und führte auch dort zu verbreitet orkanartigen Böen, über Neumarkt wurde gar eine Spitzenböe mit 141 km/h gemessen. Unter Abschwächung zog das System noch bis nach Tschechien. Am späten Abend nahm die Gewitteraktivität in der Toskana wieder zu und erreicht gegen Mitternacht ihren Höhepunkt. Eine isolierte Superzelle produzierte hierbei auf einer Länge von Grosseto bis Rimini Riesenhagel mit Größen um 12cm.
𝗙𝗮𝘇𝗶𝘁
Auf einer Gesamtlänge von über 800 Kilometern verursachte das Derecho massive Schäden in drei Ländern und kostete 12 Menschenleben auf Korsika, in der Toskana und Österreich. Offen ist noch der direkte Zusammenhang zwischen der Intensität des Ereignisses und der sehr hohen Wassertemperaturen in Adria und Mittelmeer. Es ist jedoch naheliegend, dass überdurchschnittlich hohe Wassertemperaturen des Mittelmeers, die Entstehung von besonders extremen Wetterphänomenen im Spätsommer und auch im Herbst speziell im Mittelmeerraum begünstigen.
Zahlreiche Wettermodelle berechneten die schweren Unwetter im Vorfeld gerade für Korsika und die Toskana ziemlich genau. Unten sind drei verschiedene Wettermodelle vom Vortag (17.08.2022) für die Windböenvorhersage für Korsika zu sehen. Von links nach rechts das und das EZ4 Modell und das Europa 4x4km Modell von Kachelmannwetter, ganz rechts das französische AROME Wettermodell. Alle Berechnungen hatten extrem hohe Windgeschwindigkeiten bis um 200 km/h mit einem heftigen Gewittergebiet berechnet. Zudem war das Unwettergebiet bis nach Österreich mit Blitzen und Radarbildern sehr gut zu verfolgen und damit waren frühzeitige Warnungen möglich.
Wir haben auf Twitter stetig gewarnt, da wirklich schlimme Unwetter zu erwarten waren.
*Cape (J/kg): Dieser spezielle Unwetterparameter „CAPE“ zeigt die verfügbare konvektive potenzielle Energie. CAPE bedeutet „convective available potential energy“, übersetzt „konvektiv verfügbare potentielle Energie“. Einfach gesagt handelt es sich bei diesem Parameter um die Energie, die einem möglichen Gewitter zur Verfügung steht. Hohe Werte deuten auf starke Gewitter und Unwetter hin, allerdings können in Ausnahmefällen auch bei niedrigen Werten, wenn andere Faktoren stimmen, starke Gewitter auftreten. CAPE alleine ist allerdings keine Garantie für Gewitter! Lediglich die Energie, die bei auftretenden möglichen Gewittern zur Verfügung steht, kann abgeschätzt werden. Wird im Modell Niederschlag und viel CAPE gerechnet, ist die Wahrscheinlich für starke Gewitter und Unwetter deutlich erhöht.
**Vertikale Windscherung 0-6 km: Dieser Parameter zeigt die Änderung des Windes zwischen dem Boden und 6 km Höhe. Man unterscheidet zwischen Richtungs- und Geschwindigkeitsscherung. Wichtig ist die vertikale Windscherung für die Bildung und den Fortbestand von stärkeren Gewittern. Je stärker die Scherung in der gesamten Schicht, desto deutlicher sind Auf- und Abwindbereich in einem Gewitter voneinander getrennt und die Gewitterzelle kann länger am Leben bleiben.